Gassigehen hinter Stacheldraht – Hunde im Gefängnis

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Wer in der Sicherungsverwahrung einsitzt, gilt als Gefahr für die Allgemeinheit. Kontakte nach draußen gibt es kaum. Ein Hundeprojekt in der JVA Freiburg will das ändern.

Uwe kann es kaum erwarten. Seit einer Woche fiebert der 57-Jährige dem Tag entgegen, an dem er Seker endlich wiedersehen darf. Seker ist eine Rottweiler-Hündin, Uwe ein Schwerverbrecher. Beide treffen einmal pro Woche im Gefängnishof der JVA Freiburg aufeinander. »Sitz!«, befiehlt Uwe, und der kräftige Hund gehorcht. Aus seiner Jacke zieht der Mann einen Apfel hervor. »Von meinem eigenen Geld gekauft«, sagt Uwe. »Das ist besser als die billigen Knast-Äpfel.«

Seker nimmt das Obst vorsichtig aus der Hand – man darf davon ausgehen, dass dem Hund die genaue Apfelsorte egal ist. Doch nicht nur die: Seker interessiert es nicht, dass Uwe schon 23 Jahre hinter Gittern verbracht hat. Sie weiß nicht, dass er womöglich sein Leben lang nicht mehr in Freiheit entlassen wird. Für Seker ist Uwe kein Mörder, sondern der nette Mann mit der Wollmütze und dem grauen Schnauzer, der sie jeden Mittwochnachmittag füttert.

Wer wie Uwe in der Sicherungsverwahrung einsitzt, bekommt in der Regel kaum noch Besuch. Menschen, die als so gefährlich gelten, dass sie selbst nach verbüßter Haftstrafe eingesperrt bleiben, haben ­keinen großen Freundeskreis. Um überhaupt eine Form von Sozialkontakt zu halten, hat die JVA Freiburg 2015 ein besonderes Projekt ins Leben gerufen: Einmal pro Woche kommt Hundetrainer Thomas Bierer mit seinen Schützlingen vorbei. Acht Hunde – manche seine eigenen, andere aus dem Tierheim – bringt er mit, um hinter der Stacheldrahtmauer für Abwechslung zu sorgen.

Wie die Männer ihre Zeit mit den Hunden verbringen, ist ihnen überlassen. Manche gehen eine Runde im Gefängnishof, andere bringen ihnen Tricks bei oder albern herum. Uwe hat auf all das keine Lust. Ihm reicht es, neben Seker zu sitzen und sie zu streicheln. Früher hatte er selbst einen Rottweiler. Er mochte die Spaziergänge mit seinem Hund, auch wenn die Erinnerungen an diese Zeit allmählich verblassen. Heute ist Uwes Welt eine andere. »Mein Zimmer«, sagt er und zeigt auf ein vergittertes Fenster im vierten Stock. Dort hängt sogar ein Foto von Seker.

Über 560 Personen befinden sich in Deutschland derzeit in Sicherungsverwahrung. In Baden-Württemberg sind es 55; sie sind allesamt in der JVA Freiburg untergebracht. Im Amtsdeutsch heißen sie deshalb »Untergebrachte« – von Gefangenen spricht man nicht, weil sie ihre Strafe verbüßt haben. Und weil sie per Gesetz anders behandelt werden müssen als reguläre Insassen: mehr Therapie, weniger Freiheitsentzug. So hat es das Bundesverfassungsgericht 2011 entschieden, und seitdem hat der Gesetzgeber nachgebessert. Untergebrachte müssen getrennt von den regulären Gefangenen leben (»Abstandsgebot«). In Freiburg dürfen sie selbst kochen und wohnen in größeren Zellen. Diese werden, anders als im Häftlingstrakt, zwischendurch nicht abgeschlossen, sondern bleiben bis abends geöffnet.

Zwei Drittel der Untergebrachten in der JVA Freiburg sind wegen einer Sexualstraftat hinter Gittern, ein Drittel wegen schwerer Gewaltverbrechen. Sie haben Frauen vergewaltigt, Kinder missbraucht, andere Personen beraubt und ermordet. Fast alle sind Wiederholungstäter, leiden unter psychischen Störungen und würden mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder eine Straftat begehen, kämen sie auf freien Fuß. So sehen es die Gerichte, die die Sicherungsverwahrung angeordnet haben.

Doch es handelt sich eben auch um Menschen, die trotz allem – oder gerade deswegen – ein Recht auf Therapie und die Wahrung ihrer Privatsphäre haben. Die JVA bittet aus Gründen des Persönlichkeitsrechts darum, ihre Identität nicht zu verraten, weshalb in diesem Text lediglich die Vornamen der Untergebrachten genannt werden. In Gefängnissen – auch in der JVA Freiburg – kommt es immer wieder vor, dass Häftlinge verprügelt werden. Vor allem Sexualstraftäter werden angefeindet.

Thomas Bierer, der Hundetrainer, versucht bei seinen Besuchen solche Gefühle erst gar nicht aufkommen zu lassen. »Natürlich war es komisch, als ich das erste Mal ins Gefängnis gefahren bin«, erinnert er sich. »Aber mir war klar, dass ich von der Vergangenheit der Leute nichts wissen will. Mich interessierte nur, ob sie schon mal mit einem Hund zu tun hatten.« Sein Ziel: Empathie und Verantwortungsbewusstsein bei den Untergebrachten wecken. Und das funktioniert offenbar besser als erhofft: »Am Anfang war das Projekt auf drei Monate ausgerichtet«, sagt Bierer. »Jetzt sind wir schon im vierten Jahr.«

Während seine Kunden in der Hundeschule oft wechseln, findet er in der JVA stets dieselben Klienten vor. »Viele haben eine enge Beziehung zu den Tieren aufgebaut«, sagt Bierer. Manche hätten eine »krasse Entwicklung« durchgemacht: »Da gab es Leute, die gar keine Kontakte mehr zu anderen Menschen hatten. Jetzt kochen sie in ihrem Trakt wieder für andere.« Mit Psychologie kennt sich der Hundetrainer zwar nicht aus, aber er sieht trotzdem Parallelen: »Die Lebenssituationen sind ähnlich: Die Tiere sind im Tierheim eingesperrt, die Sicherungsverwahrten im Gefängnis.« Bierer ist überzeugt, dass die Interaktion beiden Gruppen guttut.

Gerade die Hunde, die er aus dem Tierheim mitbringt, seien am Anfang extrem schüchtern. »Die brauchen eine Weile, um Vertrauen aufzubauen«, sagt Bierer, wofür sich das Gefängnis aber gut eigne. Zur Verdeutlichung zeigt er auf einen Parcours, an dem Hündin Lisa trainiert. »Sie hatte am Anfang tierisch Angst vor Männern«, sagt Bierer. Tatsächlich rennt Lisa sofort ins Auto, wenn ihr ein Unbekannter zu nah kommt. Mit Marc, ihrer Bezugsperson, ist das kein Problem. Die beiden verstehen sich, als kannten sie sich schon das ganze Leben.

Speziell vorbereitet werden die Hunde auf ihren Dienst im Gefängnis nicht. »Sie müssen natürlich Menschen mögen«, sagt Bierer, das sei das oberste Kriterium. Nur zutrauliche Tiere seien geeignet. Angst, dass einer der Männer ausrasten und einen Hund verletzen könnte, hat Bierer indessen nicht. »Wenn jemals so etwas vorfallen würde, wäre das Projekt sofort tot«, sagt der Experte. »Das würde ich den Hunden nicht antun, und das weiß hier jeder.«

Probleme habe es bislang nie gegeben, bis auf Kleinigkeiten. Einmal hätten zwei Hunde lieber miteinander gespielt, statt sich den Menschen zu widmen. Am liebsten hätten die Untergebrachten die Hunde daraufhin ausgetauscht – Bierer lehnte ab. »Es geht ja darum, an seinen Aufgaben zu wachsen«, findet der Tiertrainer. »Ich habe ihnen erklärt, dass sie ihre Hunde besser motivieren sollen, durch Futter und gute ­Zuwendung.« Dieser Tipp habe am Ende gefruchtet.

Am anderen Ende des Gefängnishofs geht Andreas spazieren. Dass er mehrere Raubüberfälle begangen hat, sieht man ihm nicht an. In Jogginghose und Kapuzenpulli führt er Kangal-Hündin Elif an der Leine. »Die ist ganz anders als viele Menschen«, findet Andreas. »Sie gibt keine dummen Kommentare von sich. Und sie hat oft keinen Bock rumzulaufen, genau wie ich.« Auch für Andreas ist der Hundebesuch das Highlight der Woche. »Das tut der Seele richtig gut«, sagt der 44-Jährige, während er mit Elif an der Gefängnis-Schreinerei vorbeischlendert. »Mein Arbeitsplatz«, erzählt Andreas. Die meisten Untergebrachten scheuten sich davor, in der Werkstatt zu arbeiten, um den regulären Insassen nicht zu begegnen. Sicherheitsverwahrte haben nicht den besten Ruf im Knast. »Mir ist das egal«, meint Andreas. »Ich will nicht den ganzen Tag nur rumsitzen.«

Dass die Untergebrachten solche Eigeninitiative zeigen, sieht Silvia Schneider auch als Bestätigung für ihr Projekt. Die therapeutische Leiterin der Sicherungsverwahrung hat die Hunde ins Gefängnis geholt, um die soziale Kompetenz der Untergebrachten zu stärken. »Die Arbeit mit den Tieren ist extrem dankbar«, sagt die Psychologin. »Für viele ist sie ein Türöffner Richtung Therapie.« Beispiel Uwe: Der sei früher extrem zurückgezogen gewesen, habe mit niemandem geredet. Der Kontakt mit den Hunden habe ihn »emotional stabilisiert«. »Er traut sich mehr zu, ist offener gegenüber Therapeuten und Justizbeamten«, sagt Schneider. »Er hat einen Riesen-Sprung gemacht.«

Lange Zeit galt die JVA mit ihrem tierischen Ansatz als Exot. Doch inzwischen bieten immer mehr Gefängnisse ähnliche Angebote an: In Berlin-Tegel leben Katzen in der Sicherungsverwahrung; in Bruchsal können Untergebrachte einen Wellensittich beantragen. Ein Allheilmittel sei all das nicht, betont die therapeutische Leiterin. »Auf jeden wirken bestimmte Angebote anders. Manche spielen Fußball, andere absolvieren ein Anti-Gewalt-Training, wieder andere widmen sich den Hunden.« Sie sieht das Projekt als einen Mosaikstein unter vielen. »Hier gibt es Leute, die ihre Therapeuten beschimpfen und sonst mit niemandem reden«, sagt Schneider. »Aber bei den Hunden blühen sie auf, da verpassen sie keinen einzigen ­Termin.«

Die Hunde geben auch Hoffnung. So hatte Uwe vor zwei Jahren einen Schlaganfall in der JVA. Das Essen im Gefängnis kann er nicht ausstehen. Wenn er aber an Seker denkt, dann leuchten seine Augen. Viermal im Jahr darf er unter Aufsicht nach draußen. Dann besucht er Thomas Bierer in dessen Hundeschule und geht mit Seker im Wald spazieren, begleitet von zwei Justizvollzugsbeamten. »Wir beide haben uns gefunden«, sagt der 57-Jährige und hält dem Rottweiler eine weitere Apfelhälfte vor die Nase. Vielleicht wird Seker, die Tierheim-Hündin, irgendwann an einen neuen Besitzer vermittelt. Dann wäre sie wieder frei. Uwe hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es ihm einmal ähnlich ergeht.

Pdf zu diesem Artikel: Hunde_im_gefaengnis

 

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